Mittwoch, 16. November 2011

Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen. ©bei Peter Bichsel

Der Milchmann



Der Milchmann schrieb auf einen Zettel: „Heute keine Butter mehr, leider.“ Frau Blum
las den Zettel und rechnete zusammen, schüttelte den Kopf und rechnete noch einmal,
dann schrieb sie: „Zwei Liter, 100 Gramm Butter, Sie hatten gestern keine Butter und
berechneten sie mir gleichwohl.“
Am andern Tag schrieb der Milchmann:
„Entschuldigung.“ Der Milchmann kommt morgens um
vier, Frau Blum kennt ihn nicht, man sollte ihn kennen,
denkt sie oft, man sollte einmal um vier aufstehen, um
ihn kennenzulernen.
Frau Blum fürchtet, der Milchmann könnte ihr böse
sein, der Milchmann könnte schlecht denken von ihr,
ihr Topf ist verbeult.
Der Milchmann kennt den verbeulten Topf, es ist
der von Frau Blum, sie nimmt meistens 2 Liter und 100
Gramm Butter. Der Milchmann kennt Frau Blum.
Würde man ihn nach ihr fragen, würde er sagen: „Frau
Blum nimmt 2 Liter und 100 Gramm, sie hat einen
verbeulten Topf und eine gut lesbare Schrift.“ Der Milchmann macht sich keine
Gedanken, Frau Blum macht keine Schulden. Und wenn es vorkommt - es kann ja
vorkommen - dass 10 Rappen zu wenig daliegen, dann schreibt er auf einen Zettel: „10
Rappen zu wenig.“ Am andern Tag hat er die 10 Rappen anstandslos und auf dem Zettel
steht: „Entschuldigung.“ 'Nicht der Rede Wert' oder 'keine Ursache', denkt dann der
Milchmann und würde er es auf den Zettel schreiben, dann wäre das schon ein
Briefwechsel. Er schreibt es nicht.
Den Milchmann interessiert es nicht, in welchem Stock Frau
Blum wohnt, der Topf steht unten an der Treppe. Er macht sich
keine Gedanken, wenn er nicht dort steht. In der ersten Mannschaft
spielte einmal ein Blum, den kannte der Milchmann, und der hatte
abstehende Ohren. Vielleicht hat Frau Blum abstehende Ohren.
Milchmänner haben unappetitlich saubere Hände, rosig, plump
und verwaschen. Frau Blum denkt daran, wenn sie seine Zettel
sieht. Hoffentlich hat er die 10 Rappen gefunden. Frau Blum
möchte nicht, dass der Milchmann schlecht von ihr denkt, auch
möchte sie nicht, dass er mit der Nachbarin ins Gespräch käme.
Aber niemand kennt den Milchmann, in unserm Quartier niemand. Bei uns kommt er
morgens um vier. Der Milchmann ist einer von denen, die ihre Pflicht tun. Wer morgens
um vier die Milch bringt, tut seine Pflicht, täglich, sonntags und werktags.
Wahrscheinlich sind Milchmänner nicht gut bezahlt und wahrscheinlich fehlt
ihnen oft Geld bei der Abrechnung. Die Milchmänner haben keine Schuld
daran, dass die Milch teurer wird.
Und eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann gern kennenlernen.
Der Milchmann kennt Frau Blum, sie nimmt 2 Liter und 100 Gramm und
hat einen verbeulten Topf.
Peter Bichsel wurde 1935 in Luzern
geboren. Kritiker bezeichnen ihn als den
„Meister der kleinen Form“, und in der Tat
schreibt Bichsel meist kleine, kurze
Geschichten in einfacher Sprache, die den
Leser zum Nachdenken über die kleinen,
oft übersehenen Details des täglichen
Lebens bringen. Er hat für sein Werk
zahlreiche literarische Preise erhalten.
Seine erste Sammlung von Erzählungen
„Eigentlich möchte Frau Blum den
Milchmann kennenlernen“ (1964) machte
ihn mit einem Schlag berühmt. Die
tragikomische Kurzgeschichte „Ein Tisch ist
ein Tisch“ erschien 1969 in dem Band
„Kindergeschichten“ (die er eigentlich für
Erwachsene geschrieben hat

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